Warum engagieren sich Deutsche und deutsche Spitzenpolitiker für die Interessen der russischen Gas-Industrie?
Eine pauschale Antwort gibt es nicht, Motive lassen sich immer nur deuten.
Vorneweg: Sehr viele der hier in den Kreis der Gas-Lobbyisten Einbezogenen dürften sich nicht als "Lobbyisten" sehen, sondern gerade viele (ehemalige) Spitzenpolitiker dürften sich bei ihren Aktivitäten im Gas-Lobby-Netzwerk als Macher sehen, die zum Wohle Deutschlands auch nach dem Ende ihrer öffentlichen Ämter weiterhin in politischer Mission für eine gute Sache unterwegs sind.
Das Selbstverständnis, auch nach dem Ende eines öffentlichen Spitzenamtes im Bereich der Wirtschaft weiterhin politisch relevant zu handeln, korrespondiert mit dem Umstand, dass in Russland "Gas- und Öl-Angelegenheiten" nie nur Angelegenheiten von russischen Wirtschaftsunternehmen sind, sondern immer auch Angelegenheiten der russischen Regierung bzw. des Putin-Regimes. Gerade auf Gazprom wird vom Putin-Regime intensiv direkt Einfluss ausgeübt, um politische Ziele zu erreichen.
Aspekte politischer Dimensionen
Das Narrativ vom "Wandel durch Handel", besonders in der SPD weit verbreitet; damit wird Geld-Verdienen mit Geschäften mit einem autoritären System positiv aufgeladen. Die westliche Neigung zur Kommunikation beförderte aber selten Systemwandel. In Russland wird sie oft belächelt. TAZ vom 3. 11. 2020 Die aktuelle Führung der SPD zeigt sich mittlerweile zerknirscht. TAZ vom 19. 10. 2022 und Tagesspiegel vom 11. 2. 2022
Die Instrumentalisierung und vermeintliche Verlängerung der Ost-Politik von Willy-Brandt und der Wunsch, sich mit Brandt (und seinem hohen Ansehen) in eine politische Kontinuität zu stellen.
Während die Ostpolitik Willy Brandts mit klarem politischem Kompass vor allem die Entspannung im Kalten Krieg und eine Verbesserung des Verhältnisses der DDR und der BRD im Blick hatte, fehlt eine vergleichbare derartige Orientierung vieler Akteure im Gas-Lobby-Netzwerk gegenüber dem Putin-Regime.
Das Phänomen, dass die Beachtung oder gar das Eintreten für Menschenrechte und die Integrität der Russland umgebenden Länder in der Wirtschafts-Außenpolitik eine völlig untergeordnete Rolle spielt.
Dies kann wohlmeinend aus der Sicht der Akteure so interpretiert werden, dass ja auch schon zu Zeiten der Sowjet-Union beim "Wandel durch Handel" und bei der Ost-Politik der Bundesrepublik in den 70´er-Jahren Menschenrechtsverstöße in der Sowjet-Union gerade kein Gesprächshindernis waren ("Immer im Gespräch bleiben.") Die Aktivitäten des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft (Stefan Creuzberger, Das deutsch-russische Jahrhundert, 2022, S. 469 ff) waren in gewisser Weise Vorläufer der von Willy Brand eingeleiteten Entspannungspolitik. Bewusst wurde seinerzeit mit Wirtschaft Politik gemacht, dabei aber nicht aus den Augen verloren, wen man im Kreml vor sich hatte.
Gegenüber dem Putin-Regime war nun aber seitens der SPD die Haltung prägend, statt Kritik und Sanktionen solle Deutschland stärker "auf die Interessen des Kreml" eingehen. Und dieses im Übereinstimmung mit dem Ostausschuss der deutschen Wirtschaft und den Akteuren des Deutsch-Russischen Forums (vgl. Creuzberger, Das deutsch-russische Jahrhundert, 2022, S. 535 f). Gerade in Mecklenburg-Vorpommern war die Ablehnung von Sanktionen gegen Russland nach der Annexion der Krim sehr deutlich, von den Vertretern der Gas-Lobby, aber auch seitens der SPD-Mitglieder der Landesregierung. Die Ostpolitik Willy Brandts wurde quasi umgedreht: statt mit Wirtschaft Entspannungspolitik zu machen, Menschenrechtserleichterungen und eine Öffnung zu erreichen, wurde nun vom Putin-Regime mit den Gas-Lobbyisten russische Hegemonialpolitik in Russlands postsowjetischem "Nahen Ausland" betrieben bzw. legitimiert und in Deutschland die Dominanz russischer Gasfirmen ausgebaut und Deutschland und andere Länder in eine Abhängigkeit gebracht.
Während die frühere Politik des "Wandel durch Handel" Deutschlands sehr darauf bedacht war, in Übereinstimmung mit den westeuropäischen Partner und der USA vorzugehen, haben die Gas-Lobbyisten Deutschland gegenüber den Partnern in der EU, vor allem in Osteuropa, und den USA in die Isolation getrieben. Von Mecklenburg-Vorpommern aus wurde teils eine die Bundes-Außenpolitik konterkarierende Neben-Ausßenpolitik betrieben (vgl. Creuzberger, Das deutsch-russische Jahrhundert, 2022, S. 542).
Nachwirkendes Verantwortungs- / "Schuld"-Gefühl deutscher Politiker / Russland-Versteher für die Verheerungen im Zweiten Weltkrieg in der Sowjet-Union (vgl. Angela Stent, Putins Russland, 2019, S. 115) und dabei
die Gleichsetzung der ehemaligen Sowjet-Union mit der Russischen Föderation nach 1990, die vom Putin-Regime auch so beansprucht wird. vgl. auch „Russland – das versehe ich, Ukraine – das verstehe ich nicht.“ .
Diese verfehlte Gleichsetzung bedient die Vorstellung des Putin-Regimes einer Restauration Russlands als Hegemonialmacht über seinen umliegenden postsowjetischen Raum und die Vorstellung des Putin-Regimes, die umliegenden Länder seinen als ehemalige Sowjet-Republiken ein "Nahes Ausland" mit minderer Souveränität (vgl. Angela Stent, Putins Russland, 2019, S. 193 ff).
Damit zusammen hängend ein vergleichsweises Desinteresse für die anderen osteuropäischen Länder wie z. B. die Ukraine und Belarus.
Ein Dankbarkeitskomplex Deutscher Politiker für die Unterstützung Russlands bei der Wiedervereinigung Deutschlands (Alexander Rahr, Wladimir Putin - Der Deutsche im Kreml, 2000, S. 267).
Weit verbreiteter Anti-Amerikanismus oder doch zumindest ausgeprägte Amerika-Skepsis in Ostdeutschland (vgl. Cerstin Gammelin, Die Unterschätzten, 2021, S. 277) und weiten Teilen älterer SPD-Mitglieder und -Funktionäre auch in Westdeutschalnd (Peter Dausend, Zeit vom 10. 11. 2022 S. 4); wobei gerade SPD-Spitzenpolitiker sich einen aus der Sozialisation in der DDR stammenden, wohl möglich in der ostdeutschen Bevölkerung überwiegenden Anti-Amerikanismus populistisch zu eigen gemacht haben (vgl. Creuzberger, Das deutsch-russische Jahrhundert, 2022, S. 545). Der Dissens zwischen Deutschland und den USA zu Beginn des Irak-Krieges und die amerikanische Präsidentschaft Trumps haben dieses sicher verstärkt. Siehe auch: https://www.zeit.de/2022/44/ostdeutschland-ukraine-krieg-protest-russland?page=2#comments und https://forum-midem.de/medien/pm-jahresstudie-2022/
Worum geht es bei dem Kalkül mit der ostdeutschen Volksseele? Um Machterhalt! Sehr pointiert Uwe Reißenweber in der Schweriner Volkszeitung vom 20. 4. 2022: "So wie schon Schwesigs Vorgänger und nunmehriger Stiftungschef Erwin Sellering (SPD) mit seiner Erzählung von der DDR, die kein totaler Unrechtsstaat gewesen sei, hat auch die Ministerpräsidentin mit Kamtschatka-kaltem Kalkül auf die Nähe zu Putin-Bewunderern gesetzt, zu SED-Verklärern, zum Freundeskreis totalitärer Systeme. Zu all jenen, von denen es in MV ausreichend gibt, um die Stimmenmehrheit zu sichern. Schwesig, Barlen und all ihre Genossen in Spitzenämtern und -funktionen haben sich bezahlen lassen in Transferrubeln aus dem stalinistischen Währungsgebiet, mit einem Judaslohn aus den Stimmen derjenigen, die sich zurücksehnen in die Kuschel-Diktatur der Wandlitz-Kleinbürger."
Manche der vorgenannten Punkte können von den Gas-Lobbyisten auch lediglich als Legitimationsfassade benutzt worden sein.
Aspekte persönlicher Dimensionen
Ohne den starken Einfluss der "Alpha-Tiere" Schröder, Clement, Gabriel und Sellering wäre es sicher nicht so weit gekommen.
Insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern dürfte Sellering wegen seines Einflusses auf Schwesig, Pegel und viele in der SPD überragenden Einfluss auf den Ausbau des Gas-Lobby-Netzwerks gehabt haben. Sellering hat Schwesig und Pegel in die Landespolitik und hohe politische Ämter geholt, ist krankheitsbedingt ( also nicht z. B. durch den Verlust einer Wahl) aus dem Amt des Ministerpräsidenten ausgeschieden und hat die von ihm als machtbewusst und durchsetzungsstark erkannte Schwesig zu seiner Nachfolgerin gekürt. Und Sellering hat als aus Westdeutschland kommend sicher mit Kalkül besonders versucht, die "ostdeutsche Seele und Gefühlswelt anzusprechen ("Die DDR war kein totaler Unrechtsstaat." (vgl. Cerstin Gammelin, Die Unterschätzten, 2021, S. 275). Anmerkung: Hier widerspricht Sellering einer Behauptung, die so keiner aufgestellt hat. Populismus durch Pauschalität. ), sich nach dem Ur-Mecklenburger Ringstorff vom Image des "Wessis" zu befreien und damit Stimmung und Stimmen zu gewinnen. Siehe den Nachruf von Sellering für den verstorbenen Ringstorff im Vorwärts vom 23. November 2022.
Noch in einer Pressekonferenz zur Klimastiftung M-V am 7. 3. 2923 spricht Stiftungsvorstand und Ex-MP Sellering von ‚Verschwörungstheorien‘ aktueller ‚Anti-Russland-Stimmung‘.
Menschliches und allzu menschliches bei ehemaligen Spitzenpolitikern: das große Ego, ohne das man/frau wohl selten Spitzenpolitiker wird;
Das Selbstverständnis eines überlegenen politisch-strategischen Weitblicks, gewachsen unter der "Sonne" großer medialer Aufmerksamkeit und vieler Zeichen von Wertschätzung, auch dadurch, dass Spitzenpolitikern oft und mit dem Fortschritt ihrer Karriere zunehmend von "Ja-Sagern" umgeben sind und damit einhergehend das Ausblenden von warnenden Stimmen, die nicht mit der eigenen Vorstellung konform gehen.
Das starke Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit, Macht und einen starken Gestaltungswillen auch nach dem Ende eines politischen Spitzenamtes; die (teils unbewusste) Angst, aus dem hellen Licht öffentlicher Aufmerksamkeit und gefühlter Wertschätzung und Bedeutung im Dunkel der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Das Selbstverständnis, man/frau habe als Person einen großen persönlichen Einfluß auf andere Mitmenschen / Politiker, beruhend auf dem Gefühl überlegener persönlicher Menschenkenntnis und hoher Überzeugungskraft.
Die als Spitzenpolitiker gemachte Erfahrung, welchen weiten Handlungsspielraum und über wie viel Geld "Wirtschaftskapitäne" verfügen und der Wunsch, nach der Befreiung von den Zwängen eines politischen Spitzenamtes "jetzt auch mal dran zu sein" und in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Zum Drehtüreffekt: https://katapult-magazin.de/de/artikel/jobkarussell-fuer-politiker
Eitelkeit, welche von Russland gerne mit der Verleihung von Orden und anderen Zeichen der besonderen Hochachtung bedient wurde (z. B. Platzeck und Sellering).
Geld ?
Ich stehe nicht an, ehemaligen Spitzenpolitikern vor allem finanzielle Vorteile als wesentliche Motive für ihren Lobbyismus zu unterstellen.
Gerhard Schröder dürfte aber in den Diensten von russischen Firmen und mit weiterer Lobbytätigkeit in zwei Jahren mehr verdient haben als in seiner ganzen Zeit als Bundeskanzler.
Wie auch immer: Russland hat offensichtlich mit viel Geld verdeckt versucht, auf europäische Parteien und europäische Politik Einfluss zu nehmen:
Der Standard vom 14. September 2022: Russland schleuste 300 Millionen Dollar an ausländische Parteien und Politiker :
Ein Bericht der US-Geheimdienste hat untersucht, wie der Kreml versuchte, mit geheimen Finanzierungen mehr Einfluss in anderen Ländern zu erlangen. Bei den 300 Millionen US-Dollar handle es sich nur um die Spitze des Eisbergs: So kommentiert ein hochrangiger Beamter der US-Regierung ein Gutachten der Geheimdienste zu geheimen Finanzflüssen Moskaus. Mit der Summe sollen seit 2014 weltweit Parteien sowie ihre Politikerinnen und Politiker unterstützt und in Richtung einer russlandfreundlichen Agenda getrieben worden sein.
Zur wirtschaftlichen Bedeutung Russlands für Mecklenburg-Vorpommern
Die besondere Hervorhebung der Wirtschaftsbeziehungen Mecklenburg-Vorpommerns zu Russland und der besondere Aufwand der bisherigen Landesregierungen bei der Pflege des Verhältnisses zu Russland legen einen sehr hohen Stellenwert dieser Wirtschaftsbeziehungen nahe. Tatsächlich hat Russland aber lediglich nachrangige Bedeutung in der Außenwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns.
Zwei Grafiken von Katapult Greifswald. Quelle und Lizenzbedingungen
«Putin hat uns alle getäuscht» – Wirklich? Den Aufstieg des Kreml-Herrschers säumen Leichen
Verbrechen und Gewalt ziehen sich durch Putins Herrschaft. Als er die Ukraine angriff, sahen sich deutsche Politiker in ihm getäuscht. Sie wollten sich täuschen lassen. Aber warum? Eine Skandalgeschichte.
Neue Züricher Zeitung vom 21. August 2023 https://www.nzz.ch/feuilleton/putin-im-anfang-war-das-verbrechen-ueber-den-mann-der-seine-feinde-auch-auf-der-toilette-eliminiert-ld.1751220
Bei Interesse an Artikeln hinter einer Bezahlschranke Mail an